Interview: „Europa hat sich in Krisen am stärksten weiterentwickelt“

Kaum jemand setzt sich beruflich so intensiv mit der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union auseinander wie Markus Beyrer. Er ist Generaldirektor von BusinessEurope,dem Dachverband der Interessensvertretungen der Industriein EU-Ländern, und spricht im Interview über konkrete Schritte, die Europa als Wirtschaftsraum stärken.

Die EU wurde vor 30 Jahren als Friedensprojekt gegründet. Taugt sie am Weltparkett auch als Wirtschaftsmacht?
Markus Beyrer: Es steht außer Frage, dass die EU als Friedensprojekt eine Erfolgsgeschichte ist und etwa durch die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes entscheidend zum wirtschaftlichen Aufstieg Europas beigetragen hat. Betrachtet man jedoch den derzeitigen Zustand der EU-Wirtschaft, wird deutlich, dass sie im internationalen Vergleich deutlich schwächer wächst. Das EU-BIP hat in den letzten Jahren im Vergleich zu dem der USA kontinuierlich an Boden verloren. Im Jahr 2008 war die Wirtschaft der EU noch 4,5 Prozent größer als die der USA. Im Jahr 2022 war sie bereits um 5,3 Prozent zurückgefallen. Diese Entwicklung muss dringend adressiert werden, wenn wir auch in Zukunft eine zentrale Rolle im globalen Wettbewerb spielen wollen.

Gemeinsamer Gaseinkauf, Binnenmarkt, Sanktionen, Wettlauf der Subventionen: Warum fällt es Europa in so vielen Fragen so schwer, geeint aufzutreten, obwohl es vielleicht spielentscheidend wäre?
Ich denke, das liegt vor allem daran, dass Europa trotz der in vielen Bereichen weit fortgeschrittenen Integration, ein Staatenverbund ist, in dem die teils unterschiedlichen Interessen von 27 Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen und, anders als beispielswese die USA oder China, kein Staat ist. Das ist auch im Wesentlichen von der europäischen Bevölkerung so gewollt. Die vielen Krisen der letzten Jahre haben jedoch aufgezeigt, dass in einigen zentralen Fragen mehr Integration und mehr Zusammenarbeit notwendig sein werden, um zu reüssieren. Andererseits war es häufig so, dass Europa sich in Krisen am stärksten weiterentwickelt hat. Das trifft auch für die letzten Jahre zu, aber was jetzt teilweise fehlt, ist die Erkenntnis, dass die anstehenden Herausforderungen nur mit einer starken Wirtschaft und einer starken industriellen Basis gemeistert werden können und dass gemäß dieser Erkenntnis gehandelt werden muss.

Ist ein Europa, das mit einer geeinten Stimme auftritt und damit auch mehr Gewicht in der Welt hat eine Herausforderung, die wir bewältigen können oder gibt es dazu Alternativen?
Ein geeintes Europa, das mit einer starken Stimme spricht, ist die einzige Chance für uns Europäer überhaupt noch eine entscheidende Rolle in der Welt zu spielen – das halte ich für alternativlos. Der verschiedenen Personen zugeschriebene Satz, dass es nur zwei Arten von europäischen Staaten gibt, nämlich kleine und solche, die noch nicht begriffen haben, dass sie im globalen Kontext klein sind, hat mehr Richtigkeit denn je zuvor. Vieles hat unter Druck relativ gut funktioniert und ich denke man kann sagen, dass Europa in Summe wahrscheinlich besser durch die Covid-Zeit navigiert wurde als andere Kontinente. In anderen Fragen steht uns nationaler Egoismus aber immer noch entscheidend im Weg.

Markus J. Beyrer ist seit Ende 2012 der Generaldirektor von BusinessEurope. Davor war er CEO der Österreichischen Industrieholding ÖIAG und Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV). Beyrer hat einen rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund mit Schwerpunkt auf europäischen Wirtschaftsfragen. Er hatte verschiedene Aufsichtsratspositionen in österreichischen Industrieunternehmen inne.


Was ist Ihre wirtschaftspolitische Bilanz der scheidenden EU-Kommission?
Durchwachsen. Die 2019 angetretene Kommission hat sich auf den Green Deal und die Bewältigung der multiplen Krisen der letzten fünf Jahre konzentriert, ohne dabei eine echte wirtschafts- und vor allem standortpolitische Strategie zu verfolgen. In letzter Zeit wächst auch in der Europäischen Kommission vielerorts die Erkenntnis, dass Europa hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit, Standortqualität und Attraktivität für Investitionen zurückgefallen ist. Mit dem Net Zero Industry Act und dem Critical Raw Materials Act wurden erste wichtige Schritte in die richtige Richtung gesetzt. Der unlängst Bazarartig zustande gekommene Kompromiss zur Europäischen Lieferkettenrichtlinie, nährt aber neue Zweifel, ob der Ernst der Lage schon hinreichend erkannt wurde.

Wofür soll die EU als Wirtschaftsraum in Zukunft stehen?
Trotz der Notwendigkeit auf gestiegene Sicherheitsinteressen zu reagieren – für Offenheit. Die EU stellt nur sechs Prozent der Weltbevölkerung und 85 Prozent des Wirtschaftswachstums der kommenden Jahre werden außerhalb der EU generiert werden. Die europäischen Unternehmen brauchen daher Diversifikationsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Export- und auch Importmärkte, denn die grüne und digitale Doppeltransformation wird nur bei hinreichender Verfügbarkeit der dafür notwendigen Rohstoffe bewältigbar sein. Die kürzlich erfolgten Abschlüsse der Freihandelsabkommen mit Chile und Kenia sind ein erster wichtiger Schritt. Gleichzeitig ist es jedoch unverständlich, dass Europa nicht in der Lage ist, die wirtschaftlichen und strategischen Chancen des Mercosur-Abkommens noch in dieser institutionellen Periode zu ergreifen.

Welche konkreten Schritte wünschen Sie sich dafür in den kommenden Jahren von der nächsten Kommission?
Klar ist, dass sich vieles ändern muss und, dass mehr faktenbasiertes Handeln und weniger vorgefasste Glaubenslehren gefragt sind. Europa wird nur mit einer starken Wirtschaft weiterhin eine Rolle in der Welt spielen und den Wohlstand seiner Bevölkerung halten können. Dazu ist es dringend notwendig, die stark gestiegene Differenz der Energiekosten im Vergleich zu unseren wesentlichen globalen Wettbewerbern zu reduzieren, die explosionsartig gestiegenen bürokratischen Belastungen, die europäischen Unternehmen die Luft zum Atmen nehmen, entscheidend zu verringern und die Genehmigungsverfahren für industrielle Anlagen, aber auch Infrastrukturprojekte deutlich zu beschleunigen. Und der Green Deal muss dringend um einen ambitionierten Industrial Deal ergänzt werden, um ihn zu dem Wachstumsprogramm zu machen, der er in der derzeitigen Form nicht ist.