Interview: „Wir sollten die EU mehr feiern“

Martin Selmayr und Julia Aichhorn: Ein hochrangiger EU-Beamter und eine junge Unternehmerin im Gespräch über ihre Vision von Europa – ist die EU zu kompliziert, warum ist sie so unbeliebt und lässt sie Unternehmen genug Freiraum?

Am 9. Juni wählt Österreich die österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament. Die Prozesse und Abläufe, die dann in Gang gesetzt werden, bis zu fertigen EU-Richtlinien und Gesetzen sind für die meisten Wählerinnen und Wähler wohl schwer zu durchschauen. Ist die EU zu kompliziert geworden?
Martin Selmayr: Wir sind ein demokratischer Kontinent und wir wählen direkt ein gemeinsames Parlament. Das ist eine wichtige Grundübung der Demokratie. Dieses Parlament macht zusammen mit den Mitgliedstaaten europäische Gesetze. Es wird erst dadurch etwas kompliziert, dass wir in Europa kein Zentralstaat, sondern 27 Staaten in einer Union sind. Das ist aber gerade auch das Schöne und Besondere an Europa, dass wir in Vielfalt geeint sind und deshalb stets die unterschiedlichen Situationen und Meinungen in den 27 Staaten berücksichtigen, wenn wir nach gemeinsamen Lösungen suchen. Deshalb wählt Österreich 20 Abgeordnete ins Europäische Parlament, ebenso wie andere Länder ihre Abgeordneten wählen. Trotz aller Vielfalt kommt am Ende ein gemeinsames Europäisches Parlament zustande, direkt gewählt, in einer unmittelbaren Wahl. Wir sind damit der einzige Kontinent der Welt, der demokratische Entscheidungen transnational organisiert. In Brüssel und in Straßburg werden Fragen entschieden, die unser gesamtes Leben und die Zukunft unserer Wirtschaft bestimmen. Deshalb ist eine europäische Wahl genauso wichtig wie eine Nationalratswahl.

Das europäische Gesetzgebungsverfahren dauert bis zur tatsächlichen Umsetzung mehrere Jahre. Eine künstliche Intelligenz, die gestern auf den Markt gekommen ist, ist vielleicht morgen schon wieder veraltet. Ist die EU-Gesetzgebung zu langsam?
Selmayr: Das wäre zu langsam, wenn das noch so wäre. Das ist aber längst nicht mehr der Fall, da Europa gerade bei der Gestaltung des digitalen Raumes die Entscheidungsverfahren auf Hochgeschwindigkeit gebracht hat. Heutzutage beklagen sich einige sogar, dass es in Europa zu schnell geht. Wir sind oft deutlich schneller als im amerikanischen Kongress, der ja zunehmend durch die wechselseitige Unversöhnlichkeit von Republikanern und Demokraten gelähmt ist. In der Europäischen Union werden heute gerade im Digitalbereich Gesetze binnen ein bis zwei Jahren verabschiedet, und wir beschließen heutzutage dabei stets EU-Verordnungen, die sofort gelten. Gesetze müssen schnell sein, um auf Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz zu reagieren oder um sie zu antizipieren. Wichtig ist, dass wir dabei nicht Detailregulierung, sondern Rahmengesetze schaffen, die Freiraum lassen, damit sich technologische Innovationen und Unternehmertum entfalten können.

Frau Aichhorn, wie geht es Ihnen damit? Gibt Ihnen die EU genug Freiraum als Unternehmerin?
Julia Aichhorn: Grundsätzlich ja, weil wir weitestgehend frei denken können und das ist wesentlich, um innovativ zu sein. Die Innovationskraft ist im europäischen Raum sicher eine der höchsten, wenn nicht sogar die höchste weltweit. Wir müssen aber aufpassen, dass es nicht zu viele Regularien werden. Bei 27 Staaten ist das nicht so einfach – EU-Gesetzgebung sollte nicht anlassbezogen sein.

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"Wir sind der offenste
Kontinent der Welt. Davon
leben wir gut in Europa

und deshalb müssen wir
aufpassen, dass wir nicht

aus kurzfristigen politischen
Stimmungslagen heraus
langfristige Chancen
verspielen."



Was sind derzeit die größten Herausforderungen und Chancen, vor die Brüssel Sie als Unternehmerin stellt?
Aichhorn: Lieferkettenrichtlinie, NIS 2 und AI Act sind drei großen Regulatorien, die uns massiv beschäftigen. Wir neigen aber gerade bei Regularien oft dazu, nur das Negative zu sehen. Die großen Handelsabkommen haben einen großen Mehrwert, in Österreich ganz speziell, als kleine, exportorientierte Wirtschaft. Das wird definitiv unterschätzt und viel zu wenig kommuniziert.

Warum denken Sie, kommen die positiven Seiten so wenig bei den Bürgerinnen und Bürgern an?
Selmayr: Es ist ein allgemeines Phänomen unserer modernen Gesellschaft, dass negative Entwicklungen stärker wahrgenommen werden als positive. Es ist deshalb die Aufgabe von Führungskräften und Multiplikatoren in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, gerade von Organisationen wie der IV, immer wieder darauf hinzuweisen, dass vieles auch sehr reibungslos funktioniert. Unser europäischer Binnenmarkt beispielsweise, dieses Jahr ist sein 30-jähriges Jubiläum, ist Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs Europas – und doch sind gar keine Partys veranstaltet worden. In der Corona-Krise haben wir doch gemerkt, dass es gar nicht selbstverständlich ist, dass die Grenzen offen sind, dass wir überall in Europa importieren, exportieren und reisen können – jetzt wieder genauso wie vor Corona. Auch über Handelsabkommen wird meist nur negativ geredet. Handelsabkommen sind aber wichtig, wenn man, wie die meisten europäischen Länder, etwa die Hälfte unseres Wohlstandes im Export verdient. Wir sind der offenste Kontinent der Welt. Davon leben wir gut in Europa und deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht aus kurzfristigen politischen Stimmungslagen heraus langfristige Chancen verspielen. Ich weiß, es ist umstritten, aber ein Abkommen wie mit dem südamerikanischen Gemeinsamen Markt Mercosur wären eine solche Chance. Das sind Demokratien, die unsere Werte teilen, die sogar historisch mit uns viel zu tun haben und jetzt unsere engen Partner werden wollen, auch in Fragen des Umwelt- und Datenschutzes. Da sollten wir Europäer beherzt zugreifen.

Aichhorn: Handelsabkommen wie mit Mercosur sollten uns auch persönlich wichtig sein. Es geht auch um den Export unserer Werte. Wenn China in Südamerika seine Interessen durchsetzt, darf es nicht überraschen, wenn es nicht unseren eigenen Vorstellungen entspricht. Wenn wir uns dann aufregen, ist es zu spät – wir hatten ja die Chance, uns einzubringen. Wo ich Ihnen noch zustimmen muss: Wir sollten die EU mehr feiern. Ich kann mich erinnern, 20 Jahre österreichischen EU-Beitritt, den hat man damals gefeiert!


Selmayr: 25 Jahre haben wir auch gefeiert. Wir sind sogar mit einem Zug durch ganz Österreich gefahren, auf dem „25 Jahre EU“ stand. Die Feierstunde ist aber leider zu oft auf die Feiernden beschränkt und hat nicht die Breitenwirkung, die sie verdient hätte. Wir müssen viel öfter über die Grundlagen reden, die nicht selbstverständlich sind: dass Demokratie funktioniert, dass wir die Möglichkeit haben, unsere Meinung frei zu äußern als Bürgerinnen und Bürger, dass wir täglich gut zusammenarbeiten in Europa. Natürlich streiten wir uns auch mal um den richtigen Weg in Einzelfragen, das gehört zur Demokratie dazu. Vor allem aber: wir tun das heute stets friedlich und keiner unter den 27 Staaten nimmt mehr die Waffen in die Hand wie das in unserer langen kriegerischen Geschichte viel zu oft der Fall war. Das ist doch die größte Errungenschaft der Europäischen Union.

"Was leider oft passiert:
Wir entwickeln in Europa
großartige Basistechnologien
und dann haben wir Angst vor
unserer eigenen Innovationskraft."

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Herausforderungen werden generell globaler und sind auf nationalstaatlicher Ebene kaum mehr zu lösen. Ich würde gerne kurz nachfragen. Bei Künstlicher Intelligenz war Europa im Vergleich sehr schnell bei der Regulierung. Wird uns das einen Vorteil verschaffen?
Selmayr: Wir wollen, dass KI-Entwicklung in Europa stattfindet – gerade Österreich ist dabei mit seinen Forschern und Unternehmen einer der dynamischen Vorreiter in Europa. Dazu brauchen wir auch Fairness im Markt, wirksamen Wettbewerb und einen Konsens, dass besonders riskante KI-Systeme, wie sie beispielsweise in China eingesetzt werden, bei uns nicht zum Einsatz kommen. Das sogenannte Social-Scoring, wo in China jeder durch KI danach bewertet wird, was er zur Gesellschaft beiträgt und was nicht, das wollen wir in Europa nicht. Denn wir respektieren den Menschen als Individuum. Wir brauchen deshalb einen Regulierungsrahmen, der klarmacht, was geht und was nicht geht. Im Bereich der Technologie-Gesetzgebung ist Europa absoluter Weltführer und das liegt vor allem daran, dass wir unseren großen Binnenmarkt mit 450 überdurchschnittlich kaufkräftigen Konsumenten haben. Wenn sich Europa auf ein Gesetz einigt und Innovationsführer ist, folgt uns deshalb meist der Rest der Welt, ob bei Datenschutz, KI oder Nachhaltigkeitsfragen. Wir können durchaus mit Selbstbewusstsein in diese Debatten gehen, weil wir in Europa viele erfolgreiche Unternehmen in diesem Bereichen haben.

Wie wichtig sind solche Rahmenbedingungen für Unternehmen in Europa?
Aichhorn: Natürlich sind uns Rahmenbedingungen lieber, die wir kennen, als solche, die willkürlich gesetzt werden. Unberechenbarkeit ist in Wahrheit das Schlimmste. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen und bei Regelwerken wie es bei der DSGVO auch passiert ist – Goldplating betreiben. Aber grundsätzlich sehe ich sehr viele Vorteile. Bei KI haben wir sehr viel Innovation in Europa. Was dann leider oft passiert: Wir entwickeln großartige Basistechnologien und dann haben wir Angst vor unserer eigenen Innovationskraft. Dann gehen wir den nächsten Schritt nicht und andere Weltregionen sind bei Anwendungen führend. In KI liegen aber auch gute Chancen, unsere Wettbewerbsfähigkeit wieder zu stärken. Die Realität ist, dass es keinen Ort der Welt gibt, wo es teurer ist zu produzieren als in Europa. Wir können mit KI die Arbeitsbedingungen verbessern, weil repetitive, langweilige Arbeiten immer stärker wegfallen. KI bringt vor allem für klassische „Kopfarbeit“ Veränderungen. Manuelle Arbeit ist davon nicht stark betroffen. Diese Jobs werden wir weiter benötigen. Österreich sehe ich da durch das duale Ausbildungssystem massiv im Vorteil.

Ein weiteres wichtiges Thema für Europa ist der Klimaschutz – welchen Einfluss hat das auf unsere Wettbewerbsfähigkeit?
Selmayr: Wenn wir es schaffen, in Europa CO2-Emissionen zu reduzieren und gleichzeitig Wirtschaftswachstum zu haben, dann wird das weltweit Vorbildwirkung haben. Das muss uns deshalb in Europa gelingen. Es gibt die Möglichkeit, Ökologie und Ökonomie zusammenzubringen. Man kann den Green Deal, richtig gemacht, als Wachstumsstrategie für Europa sehen. In dieser Frage wird sich bei der Europawahl sicherlich auch entscheiden, ob man mehr in die eine oder in die andere Richtung geht. Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden Jahren stark in den Vordergrund stellen. Denn wir werden es nur schaffen, den Rest der Welt zu mehr Klimaschutz zu bringen, wenn wir zeigen, dass unsere Politik ein wirtschaftliches Erfolgsmodell ist und unser Leben insgesamt besser macht.

Frau Aichhorn, ist die Kommission beim Klimaschutz mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit auf einem guten Weg?
Aichhorn: Die Idee ist gut, nur die Ausführung nicht optimal. Dass vom Gesetzgeber am Ende des Tages auch die Lösungen vorgegeben werden sollen, halte ich nicht für richtig. Es sollte ein Ziel gesteckt werden und dann der unternehmerischen Kraft Freiraum beim Finden innovativer Lösungen gelassen werden.

Selmayr: Deshalb ist es so wichtig, mitzubestimmen. Man kann mit dem einen Teil einverstanden sein und mit dem anderen nicht. Darüber entscheidet am Ende nicht eine Bürokratie in Brüssel, sondern die direkt gewählten Abgeordneten im Europäischen Parlament und die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten. Gerade grenzüberschreitende Themen wie das Zusammenspiel von Ökologie und Ökonomie, aber auch die Zukunft der Digitalisierung, werden wir erfolgreich nicht national entscheiden können, sondern nur gemeinsam auf europäischer Ebene. Deshalb plädiere ich dafür, zur Europawahl zu gehen. Europa ist nicht irgendeine ferne Macht, sondern das sind wir selbst. Wir alle können mitentscheiden. Eines sollten wir uns aber klarmachen: Europa besteht aus vielen Meinungen und Perspektiven. Es wird deshalb immer wieder Kompromisse geben müssen. Ich möchte dafür werben, dass wir den Kompromiss als etwas besonders Wertvolles in der Demokratie ansehen. Auf europäischer Ebene ganz besonders. Es wird sich in Europa nicht die eine extreme wirtschaftliche Auffassung oder die andere extreme ökologische Auffassung durchsetzen. Man wird sich auf einen Kompromiss verständigen müssen. Dazu müssen wir von vornherein bereit sein. Denn die Demokratie funktioniert nur in Europa, wenn wir aufeinander zugehen und am Ende bereit sind, uns in der Mitte zu treffen.

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