Es ist Zeit, den moralischen Zeigefinger zu senken

Statt sich unangenehmen wirtschaftspolitischen Wahrheiten zu stellen, versucht sich die Europäische Union als Weltverbesserer und will dazu Unternehmen instrumentalisieren. Höchste Zeit für einen Richtungswechsel.

Unternehmerische Freiheit und ökonomische Offenheit wachstumsstarken Wirtschaftsräumen gegenüber: Das ist das bewährte Rezept, um aus ökonomisch schwierigen Zeiten zu gelangen. Dass wir uns in Österreich, in Deutschland, in Europa in solchen befinden, wird wohl niemand mehr bezweifeln – statt sich allerdings an marktwirtschaftlichen Grundsätzen als Garant für Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit zu orientieren, feiert die Europäische Union offenbar hauptsächlich eine Lockerung der Subventionsregeln. Unser Wettbewerbsnachteil liegt aber nicht in einem Mangel an öffentlichen Geldern.

Die drei Säulen, auf die sich die EU lange verlassen hat, sind mehr als nur ins Wanken geraten: günstige und sichere Energieversorgung, gewinnbringende Exporte nach China und Asien sowie sicherheitspolitische Rückendeckung durch die USA. Statt sich diesen Wahrheiten zu stellen, etwa durch eine gemeinsame europäische Energiepolitik, die Vollendung der europäischen Kapitalmarktunion und die Stärkung (wirtschaftlicher) Beziehungen zu aufstrebenden Weltregionen, gibt die EU den weltverbessernden Oberlehrer. Das hätte kaum deutlicher werden können als durch die Lieferkettenregelung, die im letzten Anlauf zurecht verschoben wurde. Wortwörtlich kündigte die EU-Kommission an, per Gesetz „die Achtung der Menschenrechte in globalen Lieferketten“ verankern zu wollen. Zuständig dafür sollen europäische Unternehmen sein, die künftig offenbar EU-Gesetze in fernen Ländern durchsetzen müssen, weil sich die EU-Politik nicht in innere Angelegenheiten anderer Staaten einmischen kann. Sollte sie auch nicht – genauso wenig wie Unternehmen.

Während die USA und China mit unterschiedlichen, aber höchst wirksamen Mitteln um die Führungsrolle in allen wesentlichen Bereichen der Weltwirtschaft ringen, zieht die EU den Wirtschaftsstandort Europa mit besten Vorsätzen in die Bedeutungslosigkeit. Dass jene europäischen Unternehmen, die es kraft ihrer internationalen Produktionsstandorte können, dann woanders investieren, liegt auf der Hand und passiert längst – ohne darüber besonders laut zu sprechen. Es ist Zeit, den moralischen Zeigefinger auf der Weltbühne einzufahren und einen wirtschaftspolitischen Kurs einzuschlagen, der Europa wieder auf ökonomische Augenhöhe bringt: regulatorische Belastungen abbauen, in Innovation investieren und globale Partnerschaften stärken. Die EU steht wirtschafts- und sicherheitspolitisch an der Kippe – dabei ist die wirtschaftliche Kraft die größte und letzte verbliebene Stärke des kleinteiligen Europas. Es ist Zeit für eine Weichenstellung, die die EU diesem Anspruch wieder gerecht werden lässt.

Ihr Christoph Neumayer, IV-Generalsekretär