Wohl nur aufgrund seiner geringeren Größe im Vergleich zu Deutschland ist Österreich das zweifelhafte Prädikat des „kranken Mannes“ Europas bis dato erspart geblieben, vermutet der Chefökonom der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein, in Hinblick auf eine Titelseite des „Economist“ im Vorjahr. Nachdem die Wirtschaft in Österreich vergangenes Jahr bereits um 1,0 Prozent geschrumpft war, droht heuer ein erneuter Rückgang von 0,6 Prozent (IHS/Wifo-Prognose). In Deutschland wird (nach minus 0,3 Prozent im Vorjahr) heuer mit einem vergleichsweise milden Rückgang von minus 0,2 Prozent gerechnet. Zwei Jahre Rezession – für die Industrie bereits drei Jahre – hinterlassen mittlerweile deutliche Spuren: Die Zahl der Insolvenzen steigt und hat Auswirkungen für Tausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Durch die Schwäche in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit drohen Österreich Wohlstandsverluste mit Folgen für die Finanzierbarkeit des gut ausgebauten Sozialstaats.
„Die jüngsten Entwicklungen sind besorgniserregend und sollten die Alarmglocken schrillen lassen – trotz deutlicher Reallohnzuwächse hat Österreich in den letzten fünf Jahren an Wohlstand verloren; kurz gesagt: Es ist Feuer am Dach“, warnt Georg Knill, Präsident der Industriellenvereinigung. Ein Ausweg aus konjunkturellen Krisen lief in der Vergangenheit in Österreich laut Helmenstein immer nach einem bestimmten Muster ab, das von einem kräftigen außenwirtschaftlichen Positiv-Impuls geprägt war. Gelingt es, mit Maßnahmen entlang dieses Musters einen Aufschwung zu unterstützen, könne Österreichs bisher exportstarke Industrie vom Wirtschaftswachstum in anderen Weltregionen profitieren und so einen Weg aus der Rezession finden. „Das Fundament der österreichischen Wirtschaft war traditionell ein dynamischer Konjunkturzyklus, angestoßen durch einen außenwirtschaftlichen Impuls und getragen durch eine starke Export- und Investitionskomponente. In den letzten Jahren ist dieses Erfolgsmodell ins Stocken geraten. Während derzeit 60 und im kommenden Jahr sogar 72 Volkswirtschaften mit über vier Prozent wachsen, kann Österreich kaum Vorteile aus diesen Wachstumsimpulsen ziehen“, erklärt Knill. Mit einer Exportquote von 60 Prozent sichern exportierende Unternehmen in Österreich 1,2 Millionen Arbeitsplätze. 80 Prozent dieser Produkte wurden bisher innerhalb Europas geliefert. Mit einem Mix aus Handelsabkommen und wettbewerbsstärkenden Maßnahmen können die Potenziale weiter entfernter Märkte genutzt werden.
Energiepreise und Lohnstückkosten
„Das Problem ist, dass Österreich an diesem globalen Wachstum nicht teilnehmen kann. Wir haben uns in den vergangenen Jahren völlig aus dem Markt gepreist und verlieren ständig an Marktanteilen“, so Knill. Zum einen sind die Energiepreise anhaltend hoch und steigen gerade wieder an – Erdgas, das in der energieintensiven Industrie im Übergang zu Wasserstoff noch viele Jahre gebraucht wird, war zuletzt etwa fünfmal so teuer wie in den USA. Aber auch die hohen Lohnstückkosten, getrieben von den kräftigen Nominallohnabschlüssen der letzten Jahre ohne Verbesserungen in der Arbeitsproduktivität, verschärfen die Lage. Seit 2021 sind die Lohnstückkosten in Österreich um 30,2 Prozent gestiegen, in Deutschland lediglich um 14,3 Prozent und in Italien gar nur um 7,1 Prozent.
Ein Blick nach Deutschland zeigt: „Dort werden Kollektivvertragsabschlüsse mit größerer Weitsicht und höherem Verantwortungsbewusstsein verhandelt. Die Arbeitnehmervertretungen berücksichtigen die prekäre wirtschaftliche Situation. In Österreich hingegen fordern die Gewerkschaften weiter überzogene Gehaltssteigerungen, die in der wirtschaftlichen Lage nicht machbar sind. Unsere Warnungen in den letzten Jahren wurden ignoriert. Nun spüren wir alle die Folgen der Verantwortungslosigkeit der Gewerkschaftsvertreter“, so Knill.
Der Zyklus des Aufschwungs
Wie also läuft der typische Zyklus eines Wirtschaftsaufschwungs in Österreich ab? Ein langfristiger Konjunkturzyklus beginnt mit einem außenwirtschaftlichen Impuls. Das führt bei steigender Kapazitätsauslastung zu einer Ausweitung der Investitionen. Mit neuen Kapazitäten sind typischerweise zusätzliche Arbeitsplätze verbunden. Dadurch steigt die Beschäftigung und die Löhne ziehen an, was über eine wachsende Kaufkraft der privaten Haushalte schließlich in eine steigende Konsumnachfrage mündet. Dieser Zyklus führt zu Wohlstandszuwächsen und höheren Steuereinnahmen, die wiederum die Basis für öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Gesundheit bilden – ein Weg, der in Österreich auch nach der Rezession 1993 einen kräftigen Aufschwung ermöglicht hat: Nachzieheffekte der Ostöffnung und eine starke Auslandsnachfrage aus den USA sorgten für außenwirtschaftliche Impulse. Eine breit angelegte strukturelle Steuerreform stärkte die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte und die Eigenkapitalbildung der Unternehmen – die Abschaffung der Gewerbe- und Vermögensteuer senkte trotz Erhöhung der Körperschaftsteuer die effektive Steuerbelastung – und setzte Anreize für Investitionen. Gleichzeitig wurde mit öffentlichen Aufträgen und der Wohnbauförderung der Länder die Bauwirtschaft stabil gehalten, was ebenfalls die Erwartungen der privaten Haushalte stabilisierte. Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit – vor allem in Hinblick auf die Ostöffnung – und aufgrund der schwierigen konjunkturellen Lage gelangen bei den Herbstlohnrunden 1993 und 1994 Einigungen auf zurückhaltende Lohnabschlüsse. Im Jahr 1995 folgte schließlich der Beitritt zur Europäischen Union, was Österreich die Teilhabe an den wirtschaftlichen Chancen eines großen Binnenmarkts eröffnete.
„Eine wachsende Auslandsnachfrage und steigende Investitionen im Inland sind die beiden Haupttreiber eines lang anhaltenden, sich selbst tragenden Aufschwungs in Österreich gewesen, und sie werden es auch in Zukunft sein“, sagt Helmenstein. „Um im Export erfolgreich zu sein, ist es allerdings unverzichtbar, preislich wettbewerbsfähige Güter und Dienstleistungen anbieten zu können.“
Innovation und Infrastruktur
Neben kurzfristigen Maßnahmen darf auch die langfristige Zukunftsfähigkeit des Standorts nicht aus dem Blick geraten, sagt Knill: „Angesichts steigender Produktionskosten und des Fachkräftemangels ist es notwendig, gezielt in die Wettbewerbsfähigkeit zu investieren. Wir brauchen eine starke FTI-Politik, um Wohlstand und Resilienz für Österreich und Europa zu sichern.“ Durch stärkere Investitionen wird ein Umfeld geschaffen, das nachhaltiges Wachstum und Innovationen ermöglicht, was wiederum zu einer höheren Wettbewerbsfähigkeit führt. Investitionen in Forschung, Entwicklung und Infrastruktur bilden die Grundlage für langfristiges Wachstum. Es braucht daher eine Erhöhung der F&E-Quote auf vier Prozent des BIPs, vorzeitige Abschreibungsmöglichkeiten und einen gezielten Einsatz einer neu aufgelegten Investitionsprämie von 14 Prozent.
Zudem braucht es dringend die Einführung von Anreizen zur Steigerung der Arbeitszeit, wie beispielsweise die Schaffung eines Vollzeit-Bonus oder die Streichung leistungshemmender Steuer- und Transfergestaltungen. „Österreich hat eine der höchsten Abgabenquoten auf Arbeit weltweit. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen rund 46,8 Prozent an Abgaben. Österreich liegt bei der Belastung des Faktors Arbeit im OECD-Schnitt an dritter Stelle – ein hoher Anteil der Belastung ist auf die sogenannten Lohnnebenkosten zurückzuführen“, so der IV-Präsident. Und abschließend: „Wir müssen diesen negativen Entwicklungen dringend ein Ende setzen, das Feuer löschen und rasch mit dem Wiederaufbau starten.“