Die Welle an Marktaustritten und Desinvestitionen läuft durch Österreich, aber auch durch große Teile Europas. Mit Anfang Dezember hat die neue EU-Kommission ihre Arbeit aufgenommen, sie steht vor massiven Aufgaben: Die Strukturen, die die Union für wirtschaftliche Belange vorsieht, stammen aus Zeiten, in denen völlig andere Bedingungen herrschten. Die Zollunion wurde in den 1960ern geschaffen, der Binnenmarkt ist ein Kind der 1980er-Jahre und die Währungsunion wurde in den frühen 1990ern geformt. Mit all diesen Errungenschaften wurde damals viel erreicht, doch nun hat der Wind endgültig gedreht – der alte Kontinent droht im geopolitischen Machtspiel der Welt unterzugehen, wenn wir nicht an unseren Fähigkeiten und Stärken im Wettbewerb feilen. Es braucht eine klare industriepolitische Vision, die mit einem „Clean Industrial Deal“ die grüne Transformation in echtem Gleichklang mit wirtschaftlichen Stärkefeldern vorantreibt.
In vielen Bereichen ist die Integration Europas noch lange nicht vollendet. Wenn Europa noch über Stärken verfügt, dann ist es der gemeinsame Wirtschaftsraum, der auch international wahrgenommen wird und eine geopolitische Rolle spielt. Nicht zuletzt profitieren vom Abbau wirtschaftspolitischer Hürden innerhalb Europas vor allem kleinere Länder: Schätzungen zufolge bringt der derzeitige Binnenmarkt Luxemburg bei der Wirtschaftsleistung ein Plus von 14 Prozent; Österreich eines von sechs Prozent. Gerade wir haben daher höchstes Interesse an einer Vertiefung – die Vorschläge des Letta-Reports liegen vor, jetzt muss endlich die Umsetzung kommen.
Damit nicht genug: Insbesondere in der Geld- und Fiskalpolitik – Stichwort Kapitalmarkt –, aber auch in der Einwanderungspolitik braucht es weitere Integrationsschritte, damit wir geeint auftreten können. Europa muss an seiner grenzüberschreitenden Infrastruktur arbeiten, die Energiepreise auf ein kompetitives Niveau bringen und ein europäisches Netzwerk aus Spitzenforschung und Top-Universitäten mit Strahlkraft entwickeln. Das alles ist dringender denn je. Wir sehen bereits jetzt, wie uns in einstigen Leitbranchen die Technologieführerschaft abhandenkommt – Länder wie China springen dankbar ein und machen uns vom selbstbewussten Lieferanten zum abhängigen Kunden.
Eines muss uns dabei bewusst sein: In den Kernherausforderungen müssen wir zusammenhalten und den immer mehr abgehängten Standort wieder auf Vordermann bringen; im Sinne einer wirtschaftlichen Stärke, die uns international in Zeiten machtbasierter Weltpolitik Gewicht verleiht – das gilt für Europa, aber insbesondere auch für Österreich. Nicht nur eine neue EU-Kommission wird liefern müssen, sondern auch eine neue Bundesregierung!
Ihr Christoph Neumayer
(IV-Generalsekretär)