Mercosur-Abkommen: „Wir sollten die Chance ergreifen, bevor es andere tun“

Die EU wäre weltweit der erste Handelspartner, der mit den Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay) einHandelsabkommen abschließt. Im Presse-Interview setzt sich Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, für eine vernünftige Auseinandersetzung mit dem kontroversiell diskutierten Thema ein – und erklärt, warum Europa undÖsterreich diese historische Chance nutzen sollten.

Herr Neumayer, zwischen der EU und den Mercosur-Staaten, also Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, ist der Abschluss eines Handelsabkommens geplant. Worum geht es dabei konkret?

Wie bei allen Freihandelsabkommen geht es auch hier vor allem um das Vereinbaren von Handelserleichterungen. Handelsschranken, die irgendwann bewusst gesetzt wurden, um Sektoren der eigenen Volkswirtschaft zu schützen, sollen abgebaut werden. Die Rede ist in erster Linie von Zollreduktionen, und zwar konkret vom schrittweisen Abbau von 90 Prozent der Zölle in den nächsten 15 Jahren. Das macht das Import-Export-Geschäft natürlich günstiger. Berechnungen gehen von Einsparungen von rund 40 Milliarden Euro für europäische Unternehmen aus. Insgesamt hofft man, mit dem Abkommen für eine neue wirtschaftliche Dynamik zu sorgen. Aber es geht in dem geplanten Abkommen nicht nur um bloße Wirtschaftsbelange: Verhandelt wird ein Gesamtpaket, das etwa auch wissenschaftliche und universitäre Kooperationen vorsieht und das politische Themen umfasst.

Warum sollen gerade die Mercosur-Staaten für Europa im Allgemeinen und Österreich im Besonderen interessant sein?

Rein ökonomisch betrachtet gibt es viele spannende Industriebereiche, am Beispiel des Automotive-Sektors, der Bauindustrie, der Landwirtschaft. Viele Themenfelder könnten auch weiterentwickelt werden; ich denke beispielhaft an Tourismus und Umwelttechnologien, wo Österreich einiges an Know-how einbringen kann. Die südamerikanischen Länder sind zugleich aufgrund ihrer spezifischen Rohstoffvorkommen für Europa interessant, weil diese Rohstoffe – Stichwort Seltene Erden – als Schlüssel für die Energiewende und eine zukunftsfähige Klimapolitik gelten. Aber es gibt noch eine zweite Perspektive, aus der man das geplante Abkommen betrachten sollte, quasi eine Metaebene: Mit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine hat sich das weltpolitische Gefüge verändert – Europa muss seine Rolle in der Welt überdenken. Neue Partnerschaften, wie eben jene mit den Mercosur- Staaten, sind in dieser Zeit ein wichtiges und starkes Signal. Europa befindet sich in einem Wettbewerb, und dies zunehmend mit autokratischen Systemen. Es geht dabei nicht nur um Ökonomie, sondern auch um Weltanschauungen. Es ist kein Geheimnis, dass etwa China in viele Märkte drängt, ob im afrikanischen oder im südamerikanischen Raum.

Aber gerade aufgrund der höheren Standards und strengeren Wertkonzepte wäre Europa wohl ein nicht so einfacher Handelspartner. Warum sollen sich die Mercosur-Staaten das antun?

Weil Europa immer noch ein starker Wirtschaftsraum ist, mit 450 Millionen Konsumenten mit hoher Kaufkraft. Wenn es uns gelingt, unsere europäischen Werte und ökonomischen Standards positiv darzustellen – ohne dabei mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger aufzutreten –, dann ist die europäische Wirtschaftskraft im Zusammenspiel mit der demokratischen Gesinnung ein schlagkräftiges Argument für eine Partnerschaft. Und es würde die Demokratie auf globaler Ebene stärken.

Trotz der von Ihnen ins Treffen geführten Vorteile gibt es teils massiven Widerstand gegen das geplante Abkommen. Zu den Kritikern zählt die heimische Landwirtschaftslobby – man befürchtet etwa, dass billige Rindfleischprodukte aus Südamerika importiert werden und dies Druck auf die Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe ausübt.

Ich verstehe, dass neuer Wettbewerb sensibel macht. Aber schauen wir uns zu diesem Thema die Fakten im Detail an: Das Abkommen sieht eine Reihe von Schutzmechanismen vor. Die Mercosur-Staaten dürfen nur eine begrenzte Menge an Rindfleisch nach Europa zu günstigeren Zollbedingungen ausführen – übrigens eine sehr kleine Menge, die in Österreich und Europa kaum ins Gewicht fällt. Zweitens: Selbst wenn das Abkommen abgeschlossen wird, werden die Qualitätsstandards weiterhin durch die Nationalstaaten festgelegt. Es wird sich also nichts daran ändern, dass Österreich nach wie vor die Produkte und die Produktqualität bestimmt, die hierzulande auf den Markt und in die Regale kommen.

In der ersten Reihe der Mercosur-Skeptiker stehen auch internationale und nationale Umweltverbände. NGOs kritisieren bisher ausgehandelte Abmachungen als unzeitgemäß, klima- und umweltschädlich – Greenpeace hat gar von einem „Giftvertrag“ gesprochen.

Ich empfinde diese Kritik als unsachlich, weil sie nicht vollständig informiert. Von den Kritikern und Skeptikern wird zumeist nicht erwähnt, dass gerade intensive Gespräche über ein Zusatzabkommen geführt werden, das den Fokus genau auf umweltpolitische Themen legt. Natürlich berücksichtigen Europa und die Mercosur-Staaten im vorliegenden Abkommen Verpflichtungen für nachhaltiges Wachstum. Zudem müssen sich unsere Partner zu den Pariser Klimaschutzzielen und zur Wiederaufforstung des Regenwalds bekennen. Das ist eine Grundvoraussetzung, die in einem Zusatzprotokoll gerade ausverhandelt wird. Ich denke, dass diese Partnerschaft unter fairen Rahmenbedingungen dafür Sorge tragen kann, den globalen Umweltschutz zu stärken und nicht zu schwächen.

Von so einer positiven Haltung ist die österreichische Politik weit entfernt: Der Vorbehalt gegenüber dem Abkommen wurde hierzulande in einem Nationalratsbeschluss verankert …

Mein Eindruck ist, dass diese Antihaltung uns leider isoliert und uns als Land und Wirtschaft nicht zum Vorteil gereicht. Ich denke, wir wären in Österreich gut beraten, wenn wir uns in aller Ruhe und Sachlichkeit zusammensetzen, das Gespräch pflegen, die Argumente vernünftig diskutieren.

Die EU und der Mercosur-Raum verhandeln die Rahmenbedingungen und Details des Abkommens nun bereits seit rund 20 Jahren. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Widerstände überwunden werden können und es in absehbarer Zeit zur Ratifikation kommt?

Ich denke, es gibt in Europa aktuell eine gute Dynamik in diese Richtung. Die spanische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2023 und ein im Juli geplanter EU-Lateinamerika-Gipfel sollten entscheidende Bewegung in der Sache bringen. Wenn auch das Zusatzprotokoll mit der starken Thematisierung von Sozial-, Umwelt- und Klimathemen unter Dach und Fach ist, könnte es noch 2023 eine positive Entscheidung geben.


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