Zweimal jährlich veröffentlicht der Internationale Währungsfonds (IWF) einen ausführlichen Report über die Entwicklung der Weltwirtschaft. Für Europa gab es jetzt lange Zeit keine besonders guten Nachrichten, aber den jüngsten „World Economic Outlook“ konnte Alfred Krammer, Direktor der Europa-Abteilung des IWF, so zusammenfassen: „Nach Jahren der Krisen und ihrer Folgen ist eine sanfte Landung für die europäische Wirtschaft in greifbare Nähe gerückt.“ Um diese Chance in einen echten Aufschwung verwandeln zu können, sind allerdings dringend Reformen notwendig. Der europäische Binnenmarkt ist eine große Erfolgsgeschichte – seit Österreichs Beitritt zur EU 1995 haben sich die heimischen Exporte von 42,2 Mrd. Euro (1995) auf 194,1 Mrd. Euro (2022) mehr als vervierfacht. Die weitere europäische Integration birgt große ungenutzte Produktivitätsgewinne innerhalb der Europäischen Union und darüber hinaus – und wird für die kommende Legislaturperiode zur zentralen Aufgabe.
Doch welche Maßnahmen braucht es, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas im neuen globalen Machtgefüge zu stärken? Die Industriellenvereinigung hat im Vorfeld der EU-Wahlen umfassende Handlungsempfehlungen entwickelt. Im Fokus steht dabei das klare Bekenntnis zum europäischen Binnenmarkt, der als Herzstück der europäischen Wirtschaft eine Schlüsselrolle einnimmt. „Es geht darum, Handelsbarrieren abzubauen, grenzüberschreitende Dienstleistungen zu vereinfachen und eine echte Kapitalmarktunion zu etablieren, um unternehmerische Freiheiten zu maximieren und das Wachstumspotenzial zu heben“, so IV-Präsident Georg Knill.
In einer Zeit globaler Unsicherheiten und wirtschaftlicher Herausforderungen ist zudem eine proaktive und selbstbewusste Außenwirtschaftspolitik notwendig. Der Ausbau eines starken Netzes aus Handelsverträgen sowie eine sicherheitspolitische Perspektive, die den Aufbau eines verteidigungsfähigen Europas einschließt, sind essenziell für die dauerhafte Sicherung des europäischen Demokratie- und Wohlstandsmodells.
Die Balance zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und umweltpolitischer Verantwortung stellt eine zentrale Herausforderung für Europa dar. „Die industriellen Kapazitäten Europas sind entscheidend für unsere wirtschaftliche Zukunft“, erklärt IV-Generalsekretär Christoph Neumayer. „Deshalb müssen wir gegen die übermäßigen Regulierungen und die hohen Energiekosten vorgehen, die sie bedrohen. Eine umfassende Überprüfung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Green Deals ist dabei unerlässlich, um unsere Industrie zu schützen und gleichzeitig unsere Umweltverantwortung wahrzunehmen.“
Nutze deine Stimme!
Um möglichst viele Menschen zu den Wahlurnen zu bringen, setzt die Industriellenvereinigung mit der „IVote“-Initiative auf Rolemodels aus der Industrie, die ihre Stimme für die Zukunft Europas nutzen. Auch CEOs, Beschäftigte und Lehrlinge aus vielen der insgesamt 5.000 Mitgliedsunternehmen der IV machen mit und setzen mit persönlichen „IVote“-Bildern in ihren Unternehmen und auf Social Media ein Zeichen für Demokratie und europäischen Zusammenhalt.
Der branchenübergreifende Fachkräftemangel ist in ganz Europa spürbar – die IV setzt sich für effektive Maßnahmen zur Anerkennung von Qualifikationen und für die Beseitigung von Mobilitätshindernissen ein, um die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte zu verbessern. Mit Blick auf die nationalen Arbeitsmärkte gilt es, Maßnahmen zur Erhöhung des Arbeitsvolumens umzusetzen. „Durch die Förderung von Vollzeitarbeit und die Schaffung von Anreizen für längeres Arbeiten könnten nicht nur Produktivität und Wirtschaftsleistung gesteigert, sondern auch zusätzliche Abgaben generiert werden, die wiederum in Bildung und Kinderbetreuung investiert werden könnten“, so Knill.
Europa steht im globalen Wettbewerb um technologische Führerschaft, insbesondere in Schlüsseltechnologien wie der künstlichen Intelligenz (KI), bei denen die USA deutlich höhere Investitionen tätigen. Um diesen Rückstand aufzuholen, ist eine erhebliche Erhöhung des EU-Forschungsbudgets auf 200 Milliarden Euro geplant. Dieser Schritt soll die Forschung und Technologieentwicklung stärken und Europas Attraktivität als Standort für Innovationen erhöhen. Zudem sollen Hemmnisse für Investitionen beseitigt und die Kapitalmarktunion ausgebaut werden, um europäischen Unternehmen den Zugang zu Eigenkapitalfinanzierungen zu erleichtern und die Entwicklung von Zukunftstechnologien voranzutreiben.
„Die Industriellenvereinigung setzt sich mit diesen Vorschlägen für eine tiefgreifende Kurskorrektur ein, um Europa als wettbewerbsfähigen und zukunftsfähigen Standort zu stärken“, so Knill. Dies soll eine Priorität für die kommende EU-Legislaturperiode sein, um Herausforderungen anzugehen und die Erfolgsgeschichte Europas fortzuschreiben.
Johannes Hahn war Wissenschaftsminister in Österreich und ist seit 2010 EU-Kommissar, zuletzt zuständig für Haushalt und Verwaltung. Im Interview spricht er über die Wettbewerbsfähigkeit Europas und darüber, warum die Europäische Union manchmal so kompliziert ist.
Der europäische Industriestandort steht gewaltig unter Druck. Was können und müssen wir tun, um Europa wieder global wettbewerbsfähig zu machen?
Johannes Hahn: Die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas ist eine der Top-Prioritäten der Strategischen Agenda der EU für die Jahre 2024 bis 2029. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten und die EU an einem Strang ziehen! Als zielführende Maßnahmen sehe ich vor allem die Vollendung des Binnenmarkts, die Förderung innovativer Technologien – bei denen sich die EU dank Green Deal und der Digitalen Agenda bereits bestens positioniert hat – und den Bürokratieabbau auf EU- und nationaler Ebene. Die Europäische Union hat großes Potenzial: gut ausgebildete Arbeitskräfte, Innovationskraft und vor allem sozialen Frieden und Stabilität sowie Rechtsstaatlichkeit, die für Investitionen unerlässlich sind.
Wie muss das nächste EU-Budget aussehen, um zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Industriestandorts Europa beizutragen?
Nachdem das EU-Budget in Zahlen gegossene Politik ist, müssen im künftigen mehrjährigen EU-Budget jene Bereiche finanziell gut ausgestattet werden, die zur globalen Wettbewerbsfähigkeit der Union beitragen; also etwa die Bereiche Forschung und Innovation, neue Technologien in den Bereichen Umwelt, Bio- und Computerwissenschaft sowie gemeinsame, länderübergreifende Projekte, die europäischen Mehrwert bringen, wie es im Verkehrs- oder Energiebereich bereits geschieht. Wir haben mit der Initiative STEP bereits einen guten Ansatz für die Förderung neuer Technologien auf den Weg gebracht, aber natürlich ist das nur ein erster Schritt und braucht im künftigen EU-Budget entsprechende finanzielle Ausstattung.
Aus meiner Sicht gibt es zwei Wege, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU budgetär sicherzustellen: Entweder die Mitgliedstaaten zahlen höhere Beiträge in das EU-Budget oder man ändert die derzeitige Struktur des EU-Budgets. Letzteres würde konkret bedeuten, dass man in Hinblick auf die Mittelausstattung die gegenwärtig dominanten Bereiche Regional- und Landwirtschaftspolitik zugunsten jener Bereiche, welche die globale Wettbewerbsfähigkeit sichern, kürzt. Die Entscheidung liegt bei den Mitgliedstaaten! Hier gilt es Farbe zu bekennen: Man kann nicht mehr globale Wettbewerbsfähigkeit, mehr Sicherheit etc. fordern, ohne in diese Bereiche zu investieren.
Die Industrie bekennt sich klar zu Europa und zur EU, allerdings hinterfragen wir kritisch, warum viele Ideen aus Brüssel gut gemeint, aber aus unserer Sicht schlecht umgesetzt sind. Ein Beispiel ist das Lieferkettengesetz mit dem massiven Anstieg an bürokratischen Anforderungen durch ausufernde Sorgfaltspflichten. Auch beim Green Deal besteht diese Sorge. Warum ist Europa so kompliziert?
Zunächst eine Klarstellung: „Ideen aus Brüssel“ ist eine Verallgemeinerung. Was steckt dahinter? Gemeint ist die Europäische Union, die aus drei Institutionen besteht: der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind. Wenn es also um „Ideen aus Brüssel“ geht, dann hat die Europäische Kommission, die das Initiativrecht hat, einen Vorschlag gemacht, der vom EU-Parlament und dem Rat erst angenommen werden muss. Im Wege dieses Entscheidungsprozesses kommt es meistens zu Änderungen des Kommissionsvorschlags, wie es auch im Falle des Lieferkettengesetzes geschehen ist. Das Ergebnis ist ein Kompromiss, in den die Stellungnahmen aller Institutionen und ihrer Vertreter eingeflossen sind. Dazu kommen noch umfangreiche Konsultationen mit Interessenvertretern. Das ist natürlich ein langwieriger Prozess, der aber – und damit bin ich schon bei ihrer Frage, warum Europa so „kompliziert“ ist – die Breite der Meinungen repräsentiert. Die Berücksichtigung unterschiedlichster Positionen ist sicherlich eine komplexe Herangehensweise, garantiert aber eine demokratische und transparente Entscheidungsfindung. Daher bin ich gegen Kritik, dass Europa „zu kompliziert“ sei. Die großen Herausforderungen unserer Zeit, vom Klimawandel über Migration bis zur Bedrohung unseres demokratischen Systems, sind nicht mit einfachen Antworten zu lösen, auch wenn Populisten das weismachen wollen!
Was die Berichterstattungspflicht sowohl beim Lieferkettengesetz als auch bei Maßnahmen des Green Deal betrifft, ist es wichtig, dass bei der Umsetzung in nationales Recht mit Augenmaß vorgegangen wird – denn Bürokratie ist auch sehr oft hausgemacht; Stichwort „Gold-Plating“.