Wir müssen die EU wieder auf Kurs bringen

Diese Wahl zum EU-Parlament ist besonders bedeutend: Das so lange grundsätzlich erfolgreiche Europa muss Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft in den Mittelpunkt stellen – sonst droht der Wohlstandsabstieg zum Freilichtmuseum.

Ist der europäische Geist denjenigen ausgeliefert, die ihn angreifen oder gar zerstören wollen? Diesen Eindruck einer Europäischen Union, die ihre Rolle im globalen Kontext zu wenig proaktiv gestaltet, konnte man in den vergangenen Jahren leicht bekommen. Tatsächlich sind viele Herausforderungen Europas durch externe Faktoren, exogene Schocks bedingt, auf die eine Reaktion notwendig war, von der Pandemie bis zum Krieg, mit all den wirtschaftlichen Folgen von Lockdowns bis Energiepreisschock. Und die EU hat sich in vielen Bereichen im Krisenmanagement durchaus akzeptabel geschlagen; oft besser, als es ihr viele zugetraut hätten. Aber reicht das? Genügt es, auf das zu reagieren, was uns bedroht?

Wir haben uns die Ehrlichkeit verdient, auch einen kritischen Blick auf die Stärke Europas am Parkett der Weltpolitik zu werfen. Seit dem von Aufbruchsstimmung geprägten Jahr 1989 ist die Europäische Union von einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt gemessen am BIP zu Kaufkraftparität (heute ohne Großbritannien) hinter die USA und China gerutscht.

Europa droht eine beispiellose Deindustrialisierung mit schweren Folgen für Wohlstand und Sozialsystem. Viele Gründe dafür sind hausgemacht: Europa untergräbt seine internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Überregulierung, bürokratische Auflagen und missionarischen Eifer, der den Bezug zur Realität zu verlieren scheint, wenn man etwa auf die Ausgestaltung des Lieferkettengesetzes blickt. Massive regulatorische Kosten, im internationalen Vergleich hohe Energiekosten, höhere Arbeits- und Kapitalkosten, langwierige Genehmigungsverfahren und allgemein schwierige Investitionsbedingungen – das alles ist eine enorme Belastung für Europas international agierende Unternehmen. Diese kommen vor allem aus dem Mittelstand und sind neben den Leitbetrieben das Wohlstands-Rückgrat Europas.

Wir brauchen dringend eine Kurskorrektur – für ein geeintes, souveränes und demokratisches Europa, das wirtschaftlich und politisch ein starker und selbstbewusster Akteur auf der Weltbühne ist. Dafür muss die Bewältigung der vielen Herausforderungen für unseren Wirtschaftsstandort in der kommenden EU-Legislaturperiode absolute Priorität für die EU-Kommission, die Mitgliedstaaten und das Europaparlament haben. Dazu gehören eine Strategie für sichere Energieversorgung, der gezielte Abbau regulatorischer Überforderung, Technologieoffenheit und eine starke Kapitalmarktunion.

Wir sehen, dass sich auf europäischer Ebene aktuell einiges in Bewegung setzt – so ist auch der Bericht von Enrico Letta ein positives Signal, dass die Warnungen der europäischen Industrie verstanden wurden. Die Antwerpener Deklaration zur Industriepolitik ist dies ebenso. Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt und als solcher eine Erfolgsgeschichte, von der Länder wie Österreich massiv profitiert haben – jetzt müssen wir schnellstens ins Tun kommen, um jenes geeinte Europa zu erhalten und zu stärken, das den Geist der Pioniere des vor mehr als 30 Jahren durch den Vertrag von Maastricht gestarteten Friedensprojekts atmet, ihn gegen alle Herausforderungen der aktuellen Zeit konsequent und stark verteidigt und mit klugen Strategien die Chancen des ökologischen und technologischen Wandels nutzt. Die anstehenden EU-Wahlen geben uns allen die Möglichkeit, die dafür notwendige Kurskorrektur mit auf den Weg zu bringen. Die Zeit drängt.

Ihr

Christoph Neumayer, 
IV-Generalsekretär