Die Europäische Union gerät am Parkett der Weltwirtschaft ins Hintertreffen. 2023 ist das Bruttoinlandsprodukt der EU nur um 0,5 Prozent gewachsen, während die US-Wirtschaft um 3,1 Prozent angezogen hat und jene Chinas um 5,2 Prozent. Zu bürokratisch und zu teuer, lautet der Befund von Ökonomen und Wirtschaftsvertretern. Ein Problem, das die EU-Kommission ebenfalls erkannt hat. Vor etwa einem Jahr hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen daher zwei Berichte in Auftrag gegeben, die nun die Basis für einen neuen „Clean Industrial Deal“ sowie Stärkung und Ausbau des europäischen Binnenmarkts bilden sollen. Autoren waren mit Enrico Letta und Mario Draghi zwei ehemalige italienische Premierminister. Draghi, der den Report zur Wettbewerbsfähigkeit vorgelegt hat, gilt zudem als damaliger Chef der Europäischen Zentralbank als „Bewältiger“ der Finanzkrise. Wie geht die EU-Kommission mit den aktuellen Herausforderungen um? Das Magazin iv-position hat dazu mit Johannes Hahn und Magnus Brunner, den scheidenden und den kommenden EU-Kommissar Österreichs, zum Interview gebeten.
Johannes Hahn ist seit 1. Dezember 2019 EU-Kommissa für Haushalt und Verwaltung in der Kommission von der Leyen I und spricht zum Ende seiner Funktionsperiode über europäische Wirtschaftspolitik und die größte Herausforderungen seiner Amtszeit.
Exportstarke Länder wie Österreich und Deutschland haben deutlich an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Wurde in Brüssel in den vergangenen Jahren auf die Industrie vergessen?
Johannes Hahn: Die europäische Industrie ist viel zu prominent, als dass man sie in Brüssel oder sonst wo vergessen könnte. Und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wird zweifelsfrei eines der großen Themen für das Mandat der kommenden Europäischen Kommission sein. Um das wirtschaftliche Potenzial Europas zu entfesseln, ist es unumgänglich, die Integration des Binnenmarkts voranzutreiben und die Kapitalmarktunion zu vervollständigen. Ein starker, gut funktionierender Binnenmarkt ist Grundlage dafür, dass Europa im globalen Wettbewerb standhält.
Umdenken ist gefragt, was unsere Einstellung zu Kapitalmarkt und Risikobereitschaft anlangt – und auch im Umgang mit Regulierung. Hier müssen wir Europäer uns selbst an der Nase nehmen: Wir neigen dazu, bei jedem Missstand eine regulative Lösung zu fordern. Die daraus resultierende, teils überbordende Bürokratie bremst wiederum europäische Unternehmen im internationalen Vergleich.
Gleichzeitig darf man, was die aktuelle Situation in Deutschland und Österreich betrifft, nicht vergessen, dass gerade diese beiden Länder stark von vermeintlich billiger russischer Energie abhängig waren und die erhöhten Energiekosten natürlich für die Industrie enorme Mehrkosten verursacht haben.
Wie kann aus dem Green Deal ein Rahmen werden, in dem Unternehmen die Chancen der grünen Transformation besser nutzen können?
Der Green Deal muss in meinem Verständnis als ein wesentlicher Bestandteil unserer Industriepolitik gelebt werden. Wir haben in den letzten Jahren auf europäischer Ebene mit dem Green Deal und der digitalen Agenda wichtige Weichen gestellt, um in zukunftsfähige Technologien zu investieren, die das Potenzial haben, uns weltweit zum Innovations-Spitzenreiter zu machen. Ich glaube, dass dies bereits in breitem Maße geschieht. Denken Sie nur an die Technologien zur Erzeugung erneuerbarer Energien oder Maßnahmen zur Steigerung der Energie-Effizienz von Gebäuden. Verstärkten Handlungsbedarf sehe ich insbesondere noch in der Dauer von Genehmigungsverfahren.
Wachstum findet derzeit woanders statt. Mit Handelsabkommen könnte Europa davon stärker profitieren und auch den Zugang zu wichtigen Rohstoffen auf breitere Beine stellen. Warum sind solche Abkommen in Europa so unpopulär?
Die EU mit ihren 27 Mitgliedsländern zählt dank des gemeinsamen Binnenmarktes neben USMCA (USA, Mexiko und Kanada) und ASEAN zu den drei größten Handelsblöcken der Welt. Wir haben mit 74 Ländern weltweit Freihandelsabkommen abgeschlossen, die über 44 Prozent unseres Außenhandels abdecken. Die EU ist der Handelspartner Nummer eins für 54 Länder weltweit, die zusammen 48 Prozent des weltweiten BIP ausmachen.
Ich glaube daher nicht, dass der Handel in der EU negativ gesehen wird, im Gegenteil, er ist eine unserer Stärken, die unsere geopolitische Rolle prägt. Richtig ist, dass es in manchen Ländern, und leider gehört Österreich dazu, Skepsis gegenüber Handelsabkommen wie Mercosur herrscht.
Dabei sollte genau das Gegenteil der Fall sein: Denn die EU steht für einen auf Regeln basierenden offenen Welthandel, der faire Bedingungen für alle Handelspartner garantiert und ökologische Standards voraussetzt. Nicht zuletzt erlaubt uns die aktive Handelstätigkeit, unsere Werte und Qualitätsstandards zu schützen bzw. sie auch in andere Länder zu exportieren.
Es liegt an uns Europäern, unsere Wirtschaftsleistung und somit Verhandlungskraft zu nutzen, um diese Prinzipien in Handelsabkommen zu gießen. Relativ an der globalen Gesamtwirtschaft wird unser Gewicht künftig eher ab- als zunehmen. Dass jede Verhandlung auch Kompromisse bedarf, steht außer Frage. Ich denke nicht, dass die Welt eine bessere wäre, wenn wir breite Teile dem Einflussbereich Chinas überlassen.
Was hat die letzte EU-Kommission gut gemacht? Was war für Sie persönlich die größte Herausforderung?
Ich möchte vor allem drei Leistungen der gegenwärtigen Kommission hervorheben: Erstens, dass es uns gelungen ist, die Auswirkungen der Pandemie als vereintes Europa zu meistern. Einerseits, indem in Rekordzeit Impfstoffe für Europa und die Welt entwickelt wurden, Produktionskapazitäten geschaffen und durch eine gemeinsame Beschaffungs- und Verteilungsstrategie solidarisch gelebt wurden. Andererseits haben wir innerhalb von kürzester Zeit mit NextGenerationEU ein nie dagewesenes Europäisches Konjunkturpaket geschnürt, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie ebenso gemeinschaftlich zu stemmen. Dafür haben wir die Prinzipien der Finanzierung der Europäischen Union revolutioniert – und fast schon nebenbei ein erfolgreiches EU-Anleihenprogramm mit beträchtlichen Dimensionen auf die Füße gestellt. Damit stärken wir die Rolle des Euro am internationalen Anlagemarkt.
Als zweite Herausforderung, die ich und mein Team ebenfalls in meinem Verantwortungsbereich gut bewältigt haben, war die Sicherstellung der Business-Kontinuität während der Pandemie durch rasche Einführung neuer Arbeitsweisen. Diese „Notfalls“-Maßnahmen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die EU-Kommission heute ein offenerer, zeitgemäßer und attraktiver Arbeitgeber ist.
Drittens, dass wir uns als ernstzunehmender geopolitischer Akteur positioniert haben, insbesondere durch unser entschiedenes Handeln angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine.
Finanzminister Magnus Brunner wurde von Österreich als nächster EU-Kommissar nominiert Im Interview spricht er über seine Erwartungen zu Wettbewerbsfähigkeit und Green Deal sowie die Stärken der Europäischen Union.
Ursula von der Leyen hat das Thema Wettbewerbsfähigkeit auf ihrer Agenda weit nach oben gerückt. Was erwarten Sie von der nächsten EU-Kommission?
Magnus Brunner: Die letzten Jahre haben uns vor Augen geführt, wie verwundbar selbst starke Volkswirtschaften in Krisenzeiten sein können. Und sie haben nochmal deutlich gemacht, wie wichtig eine widerstandsfähige und wettbewerbsfähige Wirtschaft für den Erhalt unseres Wohlstands ist. Deshalb muss die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit im Mittelpunkt der Anstrengungen der neuen Kommission stehen. Wir müssen mit vereinten Kräften daran arbeiten, die Wettbewerbsfähigkeit Europas auszubauen, um im internationalen Standortwettbewerb nicht den Anschluss gegenüber anderen Regionen der Welt zu verlieren. Denn wir dürfen nicht vergessen: Unsere Konkurrenz sitzt nicht in Baden-Württemberg, Thurgau oder Vaduz, sondern in den USA, China oder Indien.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer effizienteren und leistungsfähigeren Wirtschaft ist der Abbau bürokratischer Hürden. Sie stellen nach wie vor eine sehr große Belastung für unsere Unternehmen dar und genau deshalb müssen wir uns auch auf EU-Ebene verstärkt dafür einsetzen, Bürokratie abzubauen und nicht neue zu schaffen. Außerdem – und hier stimme ich Mario Draghi in seinem Bericht vollkommen zu – müssen wir die Innovationskraft des Standorts Europa stärken, um im globalen Wettbewerb um die besten Ideen und die klügsten Köpfe nicht abgehängt zu werden. Das wird auch bei der grünen Transformation unserer Wirtschaft eine ganz entscheidende Rolle spielen. Denn diese Transformation kann uns nur gelingen, wenn wir neue Ideen fördern, technologieoffen bleiben und die Innovationskraft, die wir in Europa haben, auch in Europa halten und nutzen können. Daneben wird es von entscheidender Bedeutung sein, nach Jahren der Krisen wieder zu einer nachhaltigen Budgetpolitik zurückzukehren. Denn eines ist klar: Der budgetäre Ausnahmezustand der letzten Jahre darf nicht zum budgetpolitischen Normalzustand werden.
Jetzt gilt es, die nationalen Budgets zu sanieren und wieder zu mehr fiskalischer Disziplin zurückzukehren – das bedeutet auch, dass wir verstärkt Prioritäten setzen und das Anspruchsdenken zurückfahren müssen. Die Zeiten des Vollkasko-Staats sind vorbei.
Nur, wenn wir unsere Haushalte sanieren, werden wir auch die finanziellen Mittel haben, um in Zukunftsbereiche zu investieren und uns finanzielle Polster für künftige Krisen zu schaffen.
Ein wichtiges Thema sind auch die Stärkung des Binnenmarkts und eine Kapitalmarktunion. Welche Schritte halten Sie angesichts zahlreicher nationaler Interessen in diesem Bereich für realistisch?
Die Stärkung unserer Kapitalmärkte und die Schaffung einer Kapitalmarktunion wird entscheidend sein, um den Wohlstand in der EU auch in Zukunft erhalten zu können. Das spielt beispielsweise auch bei der Finanzierung der grünen Transformation unserer Wirtschaft eine ganz entscheidende Rolle, denn dafür werden wir ganz immense finanzielle Mittel brauchen – einerseits von staatlicher Seite, aber andererseits auch von privaten Investoren. Eine Stärkung unserer Finanzplätze würde hier die entscheidenden Weichen stellen und die notwendigen Mittel freisetzen.
Außerdem müssen wir dafür sorgen, unser europäisches Kapital auch in Europa zu halten. Der Bericht von Enrico Letta zum europäischen Binnenmarkt zeigt, dass jährlich rund 300 Milliarden Euro aus Europa abfließen – und zwar meist in den US-amerikanischen Kapitalmarkt. Das bedeutet, dass die Ersparnisse der Europäerinnen und Europäer letztlich Innovationen und Jobs im Ausland fördern. Das kann nicht das Ziel sein. Unser Kapital muss auch unserem Standort zugutekommen. Eine starke Kapitalmarktunion ist der Schlüssel, um genau das zu erreichen.
Wie soll es mit dem Green Deal weitergehen?
Zur Erreichung unserer sehr ambitionierten Klimaziele werden wir sehr viel Geld investieren müssen. Dabei ist klar: Klima-, Finanz- und Standortpolitik dürfen einander nicht ausschließen, sondern müssen Hand in Hand gehen. Denn Klimaschutz auf Kosten unseres Staatshaushalts oder des Wirtschafts- und Beschäftigungsstandortes zu machen, wäre der völlig falsche Weg – wir brauchen eine gesunde Umwelt, eine florierende Wirtschaft und nachhaltige Budgets.
Ein zentrales Instrument dabei ist die Methode des Green Budgetings, wo Österreich nicht nur in Europa, sondern weltweit zu den Vorreitern zählt. Dabei werden alle Finanzströme im öffentlichen Bereich analysiert und auf ihre Wechselwirkung mit klimapolitischen Maßnahmen und den Pariser Klimazielen überprüft. Die Daten, die durch diese Analysen ermittelt werden, können dann eingesetzt werden, um sich anzusehen, wie eine klimarelevante Maßnahme wirkt, aber auch dafür, neue kosteneffiziente Klimaschutzmaßnahmen zu entwickeln oder um klimaschädliche Finanzströme zu identifizieren. Das soll uns dabei helfen, den kosteneffizientesten Weg zur Dekarbonisierung zu finden.
Für Österreich zeigt unsere im Juni verabschiedete Carbon Management Strategie, wie wir bestehende regulatorische Barrieren abbauen und die richtigen Rahmenbedingungen für zukunftsweisende Technologien schaffen können. Denn nur mit einem investitionsfreundlichen Regelwerk können wir die notwendigen Mittel mobilisieren, um eine nachhaltige Transformation sicherzustellen. Dabei spielt auch die Speicherung und Nutzung von CO2 eine wichtige Rolle – also CCU (carbon capture and utilization) und CCS (carbon capture and storage). Beide Technologien werden laut dem Weltklimarat eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen. Hier gilt es, die richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen in Österreich zu schaffen, um diese Zukunftstechnologien nutzbar zu machen.
Die Europäische Union wird im Spiel der Weltmächte oft als langsam und schwerfällig wahrgenommen. Worin sehen Sie die großen Stärken der EU?
In einer Welt, die immer komplexer und globalisierter wird, bietet die EU einen einzigartigen Rahmen für die Zusammenarbeit von 27 souveränen Staaten. Diese enge Zusammenarbeit ermöglicht es uns, große Herausforderungen gemeinsam anzugehen – sei es im Bereich des Klimaschutzes, der Digitalisierung oder bei globalen Krisen wie der Corona-Pandemie. Ein besonderer Vorteil der EU ist ihre wirtschaftliche Macht. Mit einem Binnenmarkt von rund 450 Millionen Menschen ist sie eine der größten Wirtschaftsmächte weltweit. Diese wirtschaftliche Stärke gibt uns das Gewicht, auf globaler Ebene mit den USA oder China auf Augenhöhe zu agieren. Aber nicht nur das: Die EU setzt durch hohe Standards in Bereichen wie Datenschutz, Arbeitsrecht und Umweltpolitik weltweit Maßstäbe. Gerade aus österreichischer Sicht profitieren wir enorm von der EU – als exportorientiertes Land ist der freie Zugang zum Binnenmarkt von unschätzbarem Wert. Auch die gemeinsame Währung, der Euro, hat sich als stabilisierender Faktor in Krisenzeiten erwiesen.
Natürlich gibt es Bereiche, in denen wir schneller und effizienter werden müssen. Aber die EU zeigt auch, dass sie in der Lage ist, sich zu reformieren und auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren. Gerade die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, wie stark und widerstandsfähig diese Gemeinschaft ist. Die Fähigkeit, langfristige Lösungen im Dialog zu entwickeln, ist mit Sicherheit eine der größten Stärken der Europäischen Union.