Die Bestandsaufnahme ist düster. Auch wenn der wirtschaftliche Aufschwung in Österreich und Europa weiter nicht wirklich startet, leidet die Industrie bereits jetzt unter einem Fach- und Arbeitskräftemangel. Ein aktueller Bericht des Wirtschaftsministeriums an das Parlament nennt einen geschätzten Fach- und Arbeitskräftemangel von 210.000 Personen. In den kommenden zehn bis zwölf Jahren erwartet man in Österreich eine Lücke von etwa 540.000 Arbeitskräften. Wenn neue Aufträge kommen, wird es also genau daran fehlen, was es am meisten bräuchte: den Arbeitskräften, die den Aufschwung gestalten – jene, die Anlagen für die Energiewende bauen, die Digitalisierung vorantreiben und Europas Potenzial in Schlüsseltechnologien nutzen, aber auch jene, die das Brot backen, die Ernte einholen, Alte und Kranke versorgen und Kinder und Jugendliche ausbilden. Eine Herausforderung, die nur gesamtgesellschaftlich gestemmt werden kann. Denn ohne genug Arbeitskräfte kann Österreich auch von einer global stärker wachsenden Konjunktur weniger profitieren. Dass hier gegengesteuert werden muss, ist auch der Politik bewusst. „Die größte Herausforderung liegt in der Entwicklung der Demografie und des Arbeitsvolumens. Daher ist es wichtig, Vollzeitarbeit durch unter anderem Lohnnebenkostensenkungen zu attraktivieren. Zudem steht Österreich im Wettbewerb mit anderen Ländern um die besten Köpfe, daher sollen die Bewilligungen von Rot-Weiß-Rot-Karten noch weiter beschleunigt werden“, erklärt Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher.
Die von Kocher angesprochene demografische Entwicklung betrifft tatsächlich nicht nur Österreich, sondern ganz Europa. Die erwerbsfähige Population Europas ist laut Eurostat seit Ende 2019 um mehr als 0,7 Prozent gesunken; die Altersgruppe 25–54 ist im selben Zeitraum sogar um mehr als 1,8 Prozent geschrumpft.
Die Babyboomer-Generation ist in Österreich laut EcoAustria die am stärksten besetzte Alterskohorte. 70.000 Menschen, die heute zwischen 54 und 63 Jahre alt sind, wurden in den 1960er-Jahren geboren. Diese Zahl ist schon für die 30- bis 39-Jährigen mit jeweils gut 60.000 Personen spürbar niedriger. Die Kohorte der 10- bis 19-Jährigen ist mit jeweils rund 45.000 Frauen und Männern in den einzelnen Jahrgängen aber deutlich schwächer besetzt.
Weil die geburtenstarken Jahrgänge nun schrittweise in Pension gehen und den Arbeitsmarkt verlassen, kommt es zu einer Trendwende bei der Zahl der erwerbsfähigen Menschen – mit Stand 5,54 Millionen im Jahr 2022. Gemäß der Hauptvariante der Bevölkerungsprognose der Statistik Austria wird die erwerbsfähige Bevölkerung wohl bereits heuer erstmals nicht mehr zunehmen und bis zum Jahr 2035 auf 5,3 Millionen abnehmen. Dieser Rückgang ergibt sich trotz einer weiterhin recht kräftigen Nettozuwanderung von durchschnittlich 33.600 Personen pro Jahr.
Auch der von Kocher angesprochene Wettbewerb mit anderen Ländern um die besten Köpfe bleibt eine Herausforderung. „Um Österreich für internationale Fachkräfte attraktiv zu machen, müssen wir nicht nur wettbewerbsfähige Löhne bieten, sondern auch ein Umfeld schaffen, in dem sich Menschen wohlfühlen. Dazu gehören moderne Arbeitsbedingungen und eine hohe Lebensqualität. All das bieten wir. Die Lohnnebenkosten müssen sinken, damit mehr netto bleibt, wenn man arbeitet; Überstunden sollen nicht besteuert werden – also mehr Leistungsgerechtigkeit.“ In diesem Bereich, betont er, konnten mit der Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte bereits Fortschritte erzielt werden.
Doch neben der Zuwanderung gibt es laut Kocher noch Potenziale zu heben. Etwa beim Thema Vollzeit: die Schere zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit geht in Österreich immer weiter auf. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat sich in den vergangenen 50 Jahren massiv erhöht, von 199.200 Personen im Jahr 1974 auf mittlerweile 1,39 Millionen Personen, die Anzahl der Vollzeitbeschäftigten hat dagegen bis 1994 zugenommen, um dann bis 2023 auf 3,1 Millionen zurückzugehen. Die Gründe dafür sind bekannt: Einerseits zahlt es sich aufgrund der Steuerstufen in Österreich finanziell weniger aus als in anderen Ländern, von Teilzeit auf Vollzeit aufzustocken. Stockt eine 20-Stunden-Kraft ihre Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden auf, arbeitet sie um 50 Prozent mehr und verdient auch brutto um die Hälfte mehr – netto bleiben aber laut einer Berechnung von Agenda Austria nur 32 Prozent mehr Lohn übrig. Bei einer Aufstockung auf 40 Stunden, also um 100 Prozent, bleiben netto nur 66 Prozent mehr Lohn. Neben einer weiteren Senkung der Lohnnebenkosten sieht die Industriellenvereinigung Potenzial in einem steuerlichen Freibetrag, wenn Teilzeitkräfte auf Vollzeit aufstocken. Und andererseits gibt es zu wenige Kinderbetreuungsplätze, die vielen Eltern eine Vollzeitbeschäftigung überhaupt erst ermöglichen würden. Auch die Anzahl der durchschnittlich geleisteten Wochenstunden ist in den vergangenen 20 Jahren laut den Mikrozensus-Zahlen der Statistik Austria stark zurück gegangen. Im Schnitt hat diese Zahl von knapp 36 Wochenstunden im Jahr 2004 auf aktuell 30 Stunden abgenommen. Und auch nach dem coronabedingten Einbruch im Jahr 2020 durch die großflächig eingeführte Kurzarbeit, erfolgte in den letzten beiden Jahren nur eine geringfügige Erholung.
Potenzial für mehr getätigte Arbeit gibt es auch beim faktischen Pensionsantrittsalter. In Summe scheiden Österreicher im Europavergleich weiterhin viel zu früh aus der Erwerbstätigkeit aus. Der Anteil der 60- bis 64-jährigen Erwerbstätigen ist in Österreich mit 32,2 Prozent deutlich niedriger als etwa in Deutschland, wo in dieser Altersgruppe 62,9 Prozent berufstätig sind. Im EU-Schnitt ist die Erwerbstätigkeit Älterer zuletzt gestiegen.
Doch um all diese Potenziale zu heben, ist es entscheidend, dass auch die Politik das Problem erkennt und entsprechende Maßnahmen setzt.
„Kurzfristig setzen wir auf den Ausbau der Lehre, der Höheren Beruflichen Bildung und auf Aus- und Weiterbildungsprogramme in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, um Fachkräfte schnell in den Arbeitsmarkt zu bringen. Der Ausbau der Kinderbetreuung verstärkt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie“, erklärt Kocher die Pläne. „Langfristig müssen wir noch mehr in die Ausbildung der nächsten Generationen investieren, insbesondere in MINT-Berufen. Die gezielte Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland ist ebenfalls Teil unserer Strategie.“
Kocher betont dabei, dass die zu Ende gegangene Legislaturperiode bereits genutzt wurde, um Weichenlegungen zu setzen: „In der vergangenen Legislaturperiode haben wir zahlreiche Initiativen umgesetzt, um auf den Arbeitskräftebedarf zu antworten. Dazu zählen die Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte und viele Maßnahmen zur besseren Qualifizierung und Vermittlung beim AMS. Im Bereich der Berufsausbildungen haben wir die kostenlosen Meister- und Befähigungsprüfungen, neue Lehrberufe wie die Pflegelehre und die Höhere Berufliche Bildung eingeführt.“
Nun wird es nach der geschlagenen Nationalratswahl an einer neuen Regierung liegen, die nächsten Schritte zu setzen. Die notwendigen Maßnahmen liegen jedenfalls am Tisch.